Viele Zen-Neulinge kommen zu einem Zen-Einführungsseminar, weil sie einen Ausgleich zur Hektik der Arbeitswelt
suchen. Sie versprechen sich Entspannung und Erlösung aus ihrem inneren Stress. Und sie träumen von
Gelassenheit und innerer Stille.
Dann sitzen sie in dem Seminar (im Zen Sesshin genannt), in einer Reihe mit anderen dunkel gekleideten
Menschen. „Nicht bewegen“ sagt die „Vorsitzende“ (Jikijitsu) am Beginn mit strengem Gesicht. Dadurch sollen sie
ihre Gedanken setzen lassen und sich ihrer üblichen Reaktionsmuster gewahr werden. Weiters sagt sie: „Alles hier
ist Übung“. Das bedeutet, wie man geht, wie man sitzt, wie man den Raum betritt, das alles ist mit voller
Konzentration und genau vorgeschrieben zu vollziehen. Wie militärischer Drill kommt das vielen Neuen vor. Da
hatten sie gemeint, sie können endlich entspannen und jetzt kommen sie aus dem Denken gar nicht heraus: so viele
Regeln und Vorschriften!
Im Zen nennt man diesen Aspekt die „Form“. Die Form beginnt bei der Körperhaltung. Die äussere Form der
Meditationshaltung bildet die Struktur, sozusagen das materielle Gefäß, in dem sich die geistige Übung entfalten
kann. Das ist der individuelle Aspekt der Form. Von der Form sprechen wir aber auch in der Gruppe, denn die
individuelle Übung findet im Rahmen der Gruppe statt. Die „Form“ ist dort die Art und Weise wie die Teilnehmer in
der Meditation „sitzen“, wie sie sich im Zendo bewegen, wie sie essen und gehen.
Warum ist die Form im Zen so wichtig?
Das Leben spielt sich für viele von uns zwischen zwei Extremen ab. Auf der einen Seite steht das Strukturierte,
Geordnete, das uns Kontrolle und Übersicht erlaubt und auf der anderen Seite das Spontane, Chaotische, das
Entwicklungsschritte ermöglicht und uns das Gefühl des lebendig Seins vermittelt.
Das Strukturierte, Geordnete ist bei vielen Menschen negativ besetzt. Es erinnert an enge Zeiten, an Gehorsam,
Militarismus und „alle über den gleichen Kamm scheren“. Die „Form“ stößt daher zunächst einmal bei ZenEinsteigern auf große Skepsis.
In einem Sesshin, einer mehrtägigen Zen-Übungsperiode, ist alles Übung. In jedem Moment des Tages bleiben die
Teilnehmer im Gewahrsein des Moments. Die Form hilft ihnen zu erkennen, wann sie abdriften, denn dann sind sie
nicht „in der Form“. Immer öfter gelingt es ihnen im Laufe eines Sesshins, bewußt jeden Moment in der Form zu
blieben.
So wie ein Slalomfahrer viele tausende Male auf gleiche Weise den Hang hinunter fährt, und so seine ideale „Form“
findet, so unterstützt uns die Zen-Form, uns immer mehr auf unseren Körper zu verlassen. Tausendmal das Zendo
betreten, verbeugen und die Matten entlang gehen – und jede Zelle lernt dabei, die Bewegung mit 100%
Bewusstheit zu vollziehen. In diesem Prozess bleibt die Form nicht das Extrem des Strukturierten, Geordneten,
sondern in der Form verbindet sich das Strukturierte mit dem Lebendigen, der Geist mit dem Körper, der Wille mit
der Absichtslosigkeit. Die zwei vermeintlichen Extreme werden eins, die Form füllt sich mit Leben.
Die Form hat drei Aspekte durch die sie unsere Zen-Übung unterstützt.
Konzentration
In der Zen-Übung geht es um wache Konzentration. Die richtige Haltung beim Sitzen und das Verhalten in und
außerhalb des Zendo unterstützen genau diese Konzentration.
Es ist nicht egal wie wir sitzen. In Mentaltrainings oder geführten Meditationen heisst es oft: „Setzen Sie sich
bequem hin, lockern Sie Ihren Gürtel und schliessen Sie Ihre Augen“. Das ist die beste Voraussetzung um in das
Wolkenkuckucksheim zu driften und vor sich hin zu dösen. Die gerade Körperhaltung mit dem Schwerpunkt in der
Mitte, dem unteren Bauch, fördert die Wachheit und Konzentration. Sie ermöglicht es, viele Stunden bewegungslos
zu sitzen und dadurch in eine tiefe Versenkung zu kommen.
Die Körperhaltung ist mit einer Gitarrensaite vergleichbar: Ist sie zu schlaff, tönt sie nicht, ist sie zu straff gespannt,
reisst sie. Nur in der rechten Spannung entsteht ein wunderbarer Ton. Genauso besteht zwischen der aufrechten
Sitzhaltung und der inneren Geisteshaltung eine starke Wechselwirkung. Unser innerer Ton entsteht durch den
Körpergeist/Geistkörper, der durch unsere Konzentrationsbemühung das Gedankenkarussell nach und nach
einstellt und sich in der Stille einschwingt.
Wenn wir versuchen uns zu konzentrieren, beeinflusst uns alles was rundherum passiert. Wenn alle Anwesenden
sich an die gleichen Verhaltensregeln halten, ist es nicht nötig, sich Gedanken zu machen wie z.B. „Soll ich mich
jetzt verbeugen?“, oder „Warum geht der eine langsam und die andere schnell?“ oder „Gehe ich quer durch den
Raum oder soll ich lieber die Matten entlang gehen?“.
Im Alltagsleben sind wir jede Minute mit Eindrücken konfrontiert. Wir sehen die Menschen in der Straße, die
Werbung auf einem Plakat, die Bewegung der Autos. All dies produziert Eindrücke, die wir andauernd
wahrnehmen, bewerten und verarbeiten müssen. Auch wenn wir als Gruppe mit Menschen zusammensitzen, sehen
wir das Verhalten der anderen und können gar nicht umhin, es so wie im Alltagsleben als Eindrücke
wahrzunehmen, zu bewerten und zu verarbeiten. Je klarer die Verhaltensregeln im Meditationsraum und während
eines Sesshins sind, desto einheitlicher ist das was alle tun. So wird die Arbeit der dauernden
Informationsaufnahme zur Ruhe gebracht.
Die „Form“ ermöglicht es, sich in der Stille auf nur ein Ding zu konzentrieren, nämlich auf die Meditationsübung.
Klarheit
Aus der konzentrierten Form aller Teilnehmer entsteht eine Form der Gesamtheit. Die Bewegungen jedes einzelnen
reduzieren sich in der längeren Übungsperiode nach und nach auf das Notwendige. Es ertönt das Klangsignal und
alle setzen sich. Ohne hin und her zu schauen, ohne diese und jene Falte noch einmal und noch einmal zu richten.
Aus der Reduktion der Ablenkungen entsteht ein klarer Raum.
Diese Klarheit nimmt während eines Sesshin von Tag zu Tag zu. Die innere Klarheit, die mit der Beruhigung der
Gedanken von Stunde zu Stunde zunimmt, spiegelt sich in der zunehmenden Klarheit der äußeren Form wieder.
Jeder Tag eines Sesshins beginnt mit der Teezeremonie, einer besonderen Übung der Achtsamkeit. Die ersten zwei
Tage ist noch viel Unruhe im Raum. Jeder Teilnehmer ist noch mit sich selbst, mit seinen Gedanken und Gefühlen
beschäftigt. Von Tag zu Tag werden diese (auf sich selbst) begrenzten Gedanken weniger. Der innere Raum öffnet
sich, sie nehmen die anderen Menschen stärker wahr und nehmen die Gesamtheit des Geschehens auf. Sie werden
eins mit dem Rhythmus der Handbewegungen, des Einschenkens. Ein Ton der Stille entsteht im äusseren Raum.
Sicherheit
Die Abläufe wiederholen sich, das Programm eines Sesshins bleibt zu 90% von Tag zu Tag gleich. Die Teilnehmer
müssen sich nicht mehr damit beschäftigen, um WIE viel Uhr WAS geschieht. Das Essen ist zur gleichen Zeit. Der
Beginn des Zazen bleibt immer gleich. Ein Rhythmus entsteht. Sie fühlen sich in diesem Rhythmus geborgen.
Sie wissen, dass die Jikijitsu, die oder der Verantwortliche im Zendo, alle 25 Minuten – je nach Gruppierung auch
alle 40 oder 50 Minuten – die Runde ausläutet. Sie kennen den Rhythmus, sie kennen die Form. Die Gedanken, WIE
etwas zu tun ist, werden weniger. Die Form gibt Sicherheit. Es ist möglich, sich in die Form „fallenzulassen“, sich
sicher zu fühlen.
Durch die körperlich/geistige Erfahrung entwickeln viele Zen-Neulinge im Laufe eines Sesshins nach und nach ein
Verständnis für die praktischen Aspekte der Form.
Sie erfahren, dass die Spannung nach einer Woche Meditation tatsächlich nachgelassen hat und sie begreifen, dass
es nicht um ein Hin und Her zwischen Verspannung (im Arbeitsleben) und Entspannung (Freizeit) geht, sondern
darum, sowohl in der Arbeit als auch in der Freizeit in der rechten Spannung zu bleiben, ihr Leben zum “Klingen“
zu bringen, so wie die Saite eines Musikinstruments nur in der rechten Spannung richtig klingt.
Nach einigen Jahren der Zen-Praxis bemerken viele Meditierende, dass es erst die Form ist, die es ihnen ermöglicht,
die Form zu überwinden. Der chinesische Zen-Meister Mazu Daoyi (jap.: Baso Doitsu) hat es vor 1.200 Jahren so
formuliert: „In die Form hineingehen, aus der Form herausgehen – und Freiheit erlangen.“