Bevor ich über das Thema selbst spreche noch eine Beobachtung. Ursprünglich wollte ich den Vortrag „Rezitation“
nennen, habe ihn dann aber in „wozu rezitieren“ umgewandelt. Oft sprechen wir in den Kategorien Yin und Yang,
so wie die Chinesen denken. Und ich dachte, es ist ein großer Unterschied, ob man etwas einfach in die Welt wirft
wie „Rezitation“ – das ist eine sehr Yang-betonte Tätigkeit – oder ob man fragt „wozu rezitieren?“. Die Frage würde
ich als Yin bezeichnen, denn sie führt uns nach innen, sie führt zum Forschen. Yang hat seine Berechtigung, würde
ich aber sagen „Rezitation“, würde ich voraussetzen, ich weiß etwas darüber. Wenn ich aber sage „wozu rezitieren“,
gibt es kein Ende der Erforschung. Es ist nämlich ein sehr komplexes Thema, das ich deshalb heute nicht in seiner
Ganzheit behandeln kann.
Wir rezitieren Sutren. Das Wort Sutra hieß ursprünglich Faden. So wurde der Faden bezeichnet, mit dem man
Blumen zu einem Kranz auffädelt. Eine schöne Vorstellung. So wie wir die Sutren rezitieren ist es wie ein
Blumenkranz, gleichwertig, nicht hinauf oder hinunter, wie eine Kette von Blumen nebeneinander. Ich möchte
heute vor allem auf einen Aspekt des Rezitierens eingehen. Die Rezitation hilft uns in die Einheit zu kommen.
Anders formuliert, den Dualismus zu überwinden.
Wir haben einen Text und lesen ihn ab, indem wir rezitieren. Bei den alten Chinesen waren die Augen ein YangOrgan und die Ohren ein Yin-Organ. Am Anfang ist es recht anstrengend, diese Silben zu rezitieren, von denen man
gar keine Bedeutung kennt, denn es ist sehr nach außen gerichtet. Je besser wir die Texte kennen, desto flüssiger
geht es, desto mehr können wir nach innen horchen. Die Texte wirken nach außen und nach innen. Nach innen
deswegen, weil unser Ohr nicht nur über die Ohrmuschel hört, sondern auch über den inneren Knochen. Wir
hören unsere Stimme von außen und von innen. Wir hören die anderen und uns selber. Das Wichtige bei der
Rezitation ist nicht den Text zu verstehen. Das ist am Anfang befremdlich. Warum? Alles, was wir lesen, alles
Verschriftlichte, setzt voraus, dass wir ein Beobachter sind und nicht das Sein selber. D.h., durch das Lesen ist der
Geist damit beschäftigt, von außen auf den Text zu sehen und nicht von innen zu verstehen. Irgendwann kommt die
Zeit, wo wir die Sutren auch studieren, am Anfang wäre das aber kontraproduktiv. Sobald etwas verschriftlicht wird,
ist man nicht mehr so unbefangen drinnen. Ich erinnere mich an die Behauptung eines TCM-Arztes aus dem 8.
Jahrhundert im alten China, als die Ärzte angefangen haben niederzuschreiben was sie am Patienten
wahrgenommen haben, dass damit der Niedergang der traditionellen chinesischen Medizin begonnen hätte. Denn
sobald man etwas schriftlich vor sich hat, ist die Aufmerksamkeit, was jetzt im Moment beim Patienten passiert und
zu beobachten ist, nicht mehr so groß. Das Schriftliche verleitet zu einer vermeintlichen Sicherheit.
Wir rezitieren aus dem Atem heraus. Der Atem ist der Beginn unseres Lebens. Auch im Sanskrit kennen wir Atman
und auch die Bezeichnung Mahatma, das ist der, der die Vollendung erreicht hat, der den großen Atem erreicht hat.
Der Atem speist sich aus der Luft, die im Raum ist. Die Luft ist überall. Die alten Lateiner haben von inspirare
gesprochen, wir atmen ein. Bei der Rezitation atmen wir vor allem aus. Aber es ist die Überwindung von außen und
innen, die auch bei der Rezitation passiert. Die Luft wird zu unserem Atem und Atem wird zu Luft. Im fernen Osten
hat man die Luft als voll mit Energie gesehen, als Chi. Wir atmen das Chi ein und geben die Energie ab. Genau das
passiert in der Rezitation. Die Rezitation ist die Überwindung des Dualismus, nicht nur weil wir den BeobachterStatus aufgeben, sondern weil wir eintauchen, unsere ganze Energie hergeben. Wir beobachten nicht, was wir
gerade tun, ob wir gerade rezitieren oder singen. Sondern wir sind der Atem, wir sind die Energie, wir sind das, was
wir rezitieren. Die Überwindung von außen und innen. Beim Rezitieren ist es wichtig an den Bauch zu denken, man
sagt Hara, da wir sonst immer im Kopf sind, in der Brustatmung.
Bei der Hara-Atmung geht es aber auch um die Überwindung des Hara, es geht darum dass man vom Kopf bis zur
letzten Zehenspitze da ist, es geht um diese Schwingung. Das ist der dritte Aspekt der Überwindung des Dualismus.
Naturwissenschaftler haben entdeckt, dass das Licht Teilchen und Welle ist. Ich behaupte, dass auch wir Teilchen
und Welle sind. Normalerweise gehen wir durch die Welt als Teilchen, abgeschlossene Einheiten, in irgendeiner
Weise materialisiert als Körper oder als Geist. Aber viel wichtiger als Teilchen ist die Schwingung. Diese können wir
in der Rezitation wahrnehmen. Das hängt mit dem Rhythmus zusammen, mit dem Atem und damit, dass hier auch
andere Menschen sitzen, die in diese Schwingung eintauchen. Wir haben in unserem Körper ebenfalls den
Rhythmus, die Schwingung des Herzens und verschiedenste Organschwingungen. Mein Partner hat mir erzählt, er
er sei bei einem Kongress gewesen, wo Naturwissenschaftler über Schwingungen nachgedacht haben, wo auch
Herbert Pietschmann gesprochen hat, der Emeritus des Instituts für Physik der Universität Wien. Dabei hat jemand
behauptet, man könne tatsächlich schon nachweisen, dass das Universum schwingt, sie nennen das stehende
Skalarwellen, eine ganz langsame Schwingung. Wenn wir die Welt so denken, nämlich dass sie Schwingung ist, hat
die Rezitation, das, was wir aus uns an Schwingung von uns geben, eine ganz andere Bedeutung. Denn in der
Schwingung treten wir als Teilchen, als Ego, zurück und schwingen uns ein in das Universum und in diese Gruppe
hier, die auch alles gibt, was sie als Schwingung produzieren kann, nicht mehr an den Kopf denkt, nicht mehr in
außen und innen denkt.
Wir werden jetzt noch einmal rezitieren und versuchen, diesen Dualismus aufzuheben und in diese Einheit der
Schwingung zu kommen, von uns selber und unserem eigenen Rhythmus. Da ist der Gyorin beim Mokugyo gefragt,
das richtige Tempo zu finden, nicht zu schnell, manchmal es wichtig ist dynamisch zu sein, nicht zu langsam,
sondern genau diese Schwingung, in der wir jetzt sind in der wir jetzt rezitieren wollen.